Inhaltsverzeichnis
- Geschlechtsspezifische Medizin bis heute nicht gegeben
- Ein Beispiel: Corona
- Medikamente werden größtenteils für Männer entwickelt
- Frauen bekommen häufig falsche Medikation
- Viele Krankheiten an Frauen kaum erforscht
- Mentale Gesundheit: Die Gender (Mental) Health Gap
- Gendermedizin: Darum ist eine geschlechtsspezifische Medizin so wichtig
Frauen machen die Hälfte unserer Weltbevölkerung aus. Dennoch gibt es bis heute in vielen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen keine Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Selbst auf dem Gebiet der Gesundheit haben Frauen noch immer das Nachsehen.
Sei es, dass vor allem der männliche Körper erforscht wird, sich Studien, Therapien und Diagnosemethoden vornehmlich an der männlichen Gesundheit orientieren oder aber viele Medikamente nur an Männern getestet werden.
Das Problem: Was für das eine Geschlecht gut ist, kann für das andere völlig irrelevant, gesundheits- oder sogar lebensgefährlich sein. Höchste Zeit für die Medizin zu handeln.
Geschlechtsspezifische Medizin bis heute nicht gegeben
Obwohl Frauen und Männer biologisch betrachtet unterschiedlich sind und daher auch medizinisch unterschiedlich behandelt werden müssten, werden Frauen in Versorgungsstudien, bei Medikamententests sowie der Entwicklung von Therapieformen bis heute nicht ausreichend berücksichtigt.
Zwar ist der Frauenanteil in den letzten Jahren gestiegen, aber noch lange nicht so stark, dass ein Gleichgewicht besteht. Das Fehlen einer geschlechtsspezifischen Medizin bezeichnet man heute als „Gender Health Gap“ oder „Gender Data Gap“.
Als Grund für den niedrigen Frauenanteil in Studien wird häufig die geringe Teilnehmerzahl einer Studie aufgeführt, die es unmöglich macht, Geschlechter unterschiedlich zu betrachten. Frauen unterliegen außerdem hormonellen Schwankungen, die die Ergebnisse einer Studie verfälschen und unbrauchbar machen könnten.
Studien mit Einbezug von Frauen seien somit komplexer, komplizierter und kostenintensiver. Hinzu kommt die Angst davor, dass Spätfolgen eines Medikamententests bei einer Schwangerschaft oder der Geburt eines Kindes auftreten könnten.
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Und nicht nur die Forschung, sondern auch die geschlechtsspezifische Lehrmedizin ignoriert den Geschlechtsunterschied auch heute noch weitestgehend.
Eine Umfrage des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB) aus dem Jahr 2016 zeigte, dass Gendermedizin an den medizinischen Fakultäten in Deutschland nur unzureichend und sehr unterschiedlich gelehrt wird. Dass sich seit 2016 noch nicht genug getan hat, hat die Ärztekammer Westfalen-Lippe erst 2022 noch angesprochen: Es gebe noch immer einen großen Nachholbedarf.
Ein Beispiel: Corona
Ein Beispiel zum Thema Gender Health Gap ist die Corona-Pandemie. Nicht nur, dass Atemschutzmasken an männlichen Gesichtern orientiert sind und dadurch bei Frauen häufig weniger gut sitzen und abdichten.
Laut einer US-amerikanischen Studie zeigte 2021, dass Frauen vermehrt Frauen unter den Nebenwirkungen der Corona-Impfung leiden. Dies könnte daran liegen, dass Männer in der Medizin als Norm gelten und Frauen Medikationen bekommen, die primär am anderen Geschlecht getestet wurden.
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Medikamente werden größtenteils für Männer entwickelt
Lange wurden Arzneimittel in der Forschung ausschließlich an Männern oder männlichen Tieren getestet. Anfang der 90er-Jahre erkannte man dann allerdings zunehmend, dass Medikamente bei Frauen anders wirken als bei Männern. Dies ist zum Beispiel bei Aspirin der Fall. 1994 verlangte erstmals eine US-Richtlinie, Medikamente von nun an auch an Probandinnen zu testen.
Doch 27 Jahre später besteht das Problem immer noch. Zwar hat auch hierzulande die Politik reagiert und es gibt inzwischen Richtlinien zur Geschlechterverteilung in klinischen Studien, allerdings werden diese bislang leider nicht immer umgesetzt. Studien zeigen, dass 70 Prozent der Tierversuche auch heute noch an männlichen Ratten vorgenommen werden, lediglich 10 Prozent an weiblichen.
Das Problem: Die größtenteils für Männer entwickelten Wirkstoffe werden dann zur Behandlung von Krankheiten bei Frauen eingesetzt. Doch nur weil Männer ein Medikament gut vertragen, heißt das nicht, dass dies auch bei Frauen so sein muss. Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten sind somit vorprogrammiert.
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Wie fatal das Ausschließen von Frauen bei der Medikamentenforschung sein kann, zeigte sich zum Beispiel bei Gerinnungshemmern, sogenannten Blutverdünnern. Bei Markteinführung dieser Medikamente wusste man nämlich nicht, ob eine Frau mit Herzinfarkt einen Gerinnungshemmer bekommen darf, wenn sie ihre Periode hat. Gerinnungshemmer wurden nämlich bis zu diesem Zeitpunkt lediglich an Männern getestet.
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Frauen bekommen häufig falsche Medikation
Dass Medikamente bei Frauen und Männern ganz unterschiedlich wirken können, wurde an dem Arzneimittel Digoxin deutlich. Ärzte analysierten Ende der 1990er-Jahre dieses Medikament, das bei Herzmuskelschwäche und Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird, in einer Langzeitstudie unter Einbezug geschlechterspezifischer Unterschiede neu und stellten fest, dass Digoxin nur bei Männern wirkt, während Frauen, die es nahmen, aufgrund ihrer Herzprobleme durchschnittlich früher starben.
Obwohl sich Frauen in ihrer Körperzusammensetzung, ihren Hormonen und ihrem Stoffwechsel von Männern unterscheiden, wird auch bei der Dosierung eines Medikaments nur selten ein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht. Die Folge: Wirkstoffe sowie Impfstoffe werden bei Frauen häufig überdosiert.
Viele Krankheiten an Frauen kaum erforscht
Ein weiteres Problem in der Gesundheitsversorgung: Viele Krankheiten sind an Frauen nicht ausreichend erforscht. Die Zahl der Herzinfarkte bei Frauen ist zum Beispiel fast genauso hoch wie bei Männern. Bereits in den 1980er Jahren wurde festgestellt, dass Frauen nach einem Herzinfarkt sehr viel häufiger sterben als Männer.
Der Grund: Herzinfarkte wurden aufgrund falscher oder verspäteter Diagnosen nicht rechtzeitig erkannt. Frauen zeigten nämlich anstelle der typisch männlichen Symptome, wie Brustschmerzen oder ein Engegefühl in der Brust, ganz andere Symptome, etwa Übelkeit, Erschöpfung und Erbrechen. Die brachte man nicht mit einem Herzinfarkt in Verbindung.
Mentale Gesundheit: Die Gender (Mental) Health Gap
Nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch psychische Krankheiten, können sich bei Männern und Frauen unterschiedlich äußern – und sind bei Frauen meist weniger bekannt oder weniger gut erforscht.
Lange Zeit wurden Frauen beispielsweise mit „Hysterie“ diagnostiziert. Unter dem Begriff konnte so gut wie alles fallen, das Frauen belastet hat und was die Medizin zu der Zeit nicht weiter eingrenzen konnte.
Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Depression und sogar Unfruchtbarkeit – all dies und noch mehr wurde während der 18. und 19. Jahrhunderts unter dem Begriff „weibliche Hysterie“ zusammengefasst. Erst 1980 wurde der Begriff aus der medizinischen Terminologie gestrichen.
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Doch die Vorurteile, die die Diagnose „Hysterie“ mit sich gebracht haben, sind bis heute spürbar. Vorurteile, dass Frauen „dramatischer“ oder „emotionaler“ seien als Männer, halten sich hartnäckig. Und können es Frauen erschweren, mit ihren Beschwerden ernst genommen zu werden.
Auch Autismus- oder ADHS-Diagnosen werden bei Frauen meist deutlich später gestellt, als bei Männern. Symptome für die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sind bei Frauen in der Regel weniger offensichtlich.
Während Männer eher zu hyperaktivem/impulsivem ADHS neigen, zeigen Mädchen und Frauen überwiegend leichte Ablenkbarkeit, Gedächtnisschwäche und Desorganisation. Da für viele noch das typische Bild eines lauten Kindes, das den Unterricht stört, mit ADHS in Verbindung gebracht wird, wird ADHS bei Frauen oft übersehen und nicht erkannt oder diagnostiziert.
Gendermedizin: Darum ist eine geschlechtsspezifische Medizin so wichtig
All dies zeigt, wie wichtig es ist, dass die Medizin die Unterschiede von Frauen und Männer berücksichtigt. Hier kommt die sogenannte Gendermedizin ins Spiel. Die Gendermedizin beschäftigt sich mit den geschlechtsbedingten Unterschieden von Frauen und Männern, wobei sowohl biologische als auch soziale Faktoren eine Rolle spielen.
Noch ist in Deutschland die Berliner Charité das einzige medizinische Institut, das sich mit Gendermedizin auseinandersetzt. Doch die Geschlechterforschung in der Medizin wurde in den letzten Jahren immer präsenter. An der Universität Halle gibt es seit 2014 ein Prodekanat für Gender, das sich ebenfalls für ein geschlechtssensibles Medizinstudium einsetzt.
Das Deutsche Ärzteblatt berichtet zudem, dass das Bundesgesundheitsministerium mit rund 4,1 Millionen Eure zwölf Produkte mit dem Schwerpunkt Gendermedizin fördert.
Auch Vera Regitz-Zagrosek, Professorin für Geschlechtermedizin und Stefanie Schmid-Altringer, Ärztin, Wissenschaftsjournalistin und Filmemacherin fordern in ihrem Buch „Gendermedizin.
Warum Frauen eine andere Medizin brauchen“ (hier bei Amazon kaufen*) eine geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung. Schließlich käme dies nicht nur Frauen zugute. Es würde letztendlich jedem, ob Mann, Frau oder Divers, dabei helfen, die optimale Diagnostik und Therapie zu erhalten.
Quellen:
- Europäische Regelung: Gleichstellung der Geschlechter in Gesundheit und klinischer Forschung (Europäisches Parlament, 2017)
- vfa-Positionspapier: Berücksichtigung von Frauen und Männern bei der Arzneimittelforschung (Verband Forschender Arzneimittelhersteller, 2020) (PDF)
- Zucker, Irving & Beery, Annaliese K.: Males still dominate animal studies (Nature, 2010)
- Rathore, Saif S. et al.: Sex-Based Differences in the Effect of Digoxin for the Treatment of Heart Failure (New England Journal of Medicine, 2002)
Hinweis: Der Inhalt dieses Artikels dient lediglich der Information. Bei akuten Beschwerden und Problemen wendet euch bitte an euren Arzt.