Neulich saß ich mit einem jungen Mädchen im Café. Sie trug keinen BH unter ihrem Top. So weit, so gut. Absolut nichts, worüber man groß reden müsste. Im Nachhinein sagte sie, dass ihr extrem viele Männer auf den Busen gestarrt hätten. Der Kommentar der Mutter: „Dann solltest du besser einen BH tragen, wenn dich das stört.“
So sehr diese Bemerkung auch dafür gedacht sein mag, die eigene Tochter zu beschützen: Das sind so Momente, in denen man an Slutshaming denken muss. Frauen, die sich aufgrund ihres Outfits nicht wundern müssen, wenn man sie anglotzt, angrapscht oder belästigt. Eine schräge Weltsicht also.
Fakt ist: Egal ob eine Frau einen großen Busen hat oder einen kleinen, einen verhüllten oder einen mit mega Dekolleté: Wenn ihr jemand unverhohlen auf die Oberweite starrt, dann hat das exakt Null etwas mit der Frage zu tun, ob sie einen BH trägt oder nicht, sondern allein mit der Frage des Anstands. Und zwar von demjenigen, der seine Blicke nicht im Griff hat.
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Bestehende Schönheitsdiktate für Frauen hinterfragen
Umso besser, dass das „zügellose“ Herumtragen der eigenen Brüste mehr und mehr zum Statement geworden ist und neben behaarten Achseln und flauschiger Beinbehaarung dazu beiträgt, die Schönheitsdiktatur zu hinterfragen, der wir Frauen uns schon so lang fraglos unterstellen.
Und allein dafür kann man jeder Frau nur danken, die mit ihrem Verhalten dazu beiträgt, sich mehr und mehr aus dem Korsett von „das macht man als Frau halt so“ zu befreien.
Ich war 12, als die Tanzlehrerin vor einem Haufen pubertierender Mädchen verkündete: „Kinder, rasiert euch bitte unter den Armen“. Ein paar Jahre später war es ein junger Typ auf meiner Schule, der klarstellte: Frauen sollten sich unbedingt die Beine rasieren. Und ich war dumm genug, in beiden Fällen zum Rasierer zu greifen.
Gut, dass das heute anders ist. Dass sich mehr und mehr Frauen dagegen entscheiden. Wobei allein das „dagegen“ schon wieder blöd klingt. Weil es nicht als „normal“ angesehen werden sollte, sich Körperbehaarung zu entfernen oder die Brüste anzuschnallen und in Form zu pressen.
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‚No Bra‘: Wichtiges Statement statt nur ein Modetrend
Immer mehr Promis und Influencer auf Instagram und Co. verzichten bei ihrem täglichen Style auf einen BH. Auf Social Media Kanälen finden sich Hashtags wie #nobraday oder #freethenipple. Allein auf TikTok gibt es zum Hashtag #nobra 668,5 Millionen Aufrufe. Und auch auf der Straße sieht man immer mehr Frauen, die unter ihren Tops nichts tragen.
Laut einer Umfrage von Stylebook unter 39.000 Frauen (Stand 16.11.21) verzichtet jede fünfte Frau komplett auf einen BH. Mittlerweile dürften es noch mehr sein.
Und wenn dann die Brustwarzen zu sehen sind: Who cares? Es ist toll zu sehen, wie selbstbewusst viele Frauen zum Thema No Bra stehen. Und es ist ebenso toll, dass viele Frauen das Ganze nicht als Frage von Fashion und Style sehen, sondern eben als Statement, das besagt: Warum zwängen wir uns unnötig ein? Wer schreibt die Regeln?
Und deshalb ist die Befreiung von BH und Co. auch nicht nur einfach etwas, was wir aus Bequemlichkeit tun oder einer dieser gemütlichen Trends, die wir in den Zeiten von Corona und Homeoffice lieben gelernt haben. Es ist mehr. Es ist auch ein Akt von Emanzipation und Eigenermächtigung.
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No Bra-Trend: Die Anfänge liegen in den 60er Jahren
Wer jedoch denkt, das sei jetzt ein Erfolg der heutigen jungen Generation, der irrt, denn die No-Bra-Bewegung gibt es schon deutlich länger.
Die Anfänge reichen zurück in die 1960er-Jahre. Hier war es der Miss-America-Protest von 1968, der von der New Yorker Bürgerrechtsgruppe Radical Women initiiert wurde. Dieser Protest richtete sich gegen die Erwartungen der Gesellschaft an Frauen, einen Büstenhalter zu tragen.
Es war die Zeit, in der man sich auflehnte, gegen unsinnige Strukturen und Zwänge. Man protestierte gegen den Vietnamkrieg und die Männer verbrannten damals ihre Einberufungskarten.
Für die Aktion gegen die Miss-America-Wahl wurde im Vorfeld ein „Freedom Trash Can“ aufgestellt. Die Frauen wurden dazu aufgerufen, hier alle Dinge zu verbrennen, die für „konstruierte Vorstellungen von Weiblichkeit stehen: wie BHs, Mieder, Lockenwickler, falsche Wimpern, Perücken und Ausgaben des Magazins ‚Cosmopolitan'“, wie die Vogue schreibt.
Das Bild von Frauen, die ihre BHs verbrennen, hatte damals eine große Symbolkraft. Der BH ist also nicht „nur“ ein Kleidungsstück, sondern steht symbolisch für sehr viel mehr in der Frauenrechtsbewegung. Letztlich steht er für die Emanzipation der Frau, die selbst über ihren Körper bestimmen möchte.
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Damals wie heute haben sich viele Frauen bewusst ohne BH gezeigt, auch viele prominente Frauen, wie Jane Birkin oder Kate Moss. Ihr Statement: Schaut her, es ist mir egal, was ihr denkt. Ich bin frei, für mich zu entscheiden, was ich mir antun möchte und was nicht. Frauen müssen aufhören, sich einem Diktat zu unterwerfen, was Schönheit und Mode angeht.
Kleine Anekdote zu der großartigen Jane Birkin, die 1969 auf der Filmpremiere zu „Slogan“ ein sehr durchsichtiges Minikleid trug (siehe Foto): Sie erzählte später gegenüber VOGUE Paris: „Ich wusste nicht, dass es so durchsichtig ist. Das ist dem Blitzeffekt der Fotograf*innen geschuldet. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich keinen Schlüpfer angezogen!“
Leiert die weibliche Brust ohne einen BH aus?
Bleibt noch die Frage zu klären, was dran ist an der Annahme, dass die weibliche Brust Unterstützung durch einen BH braucht. Leiert das Gewebe wirklich schneller aus, wenn wir keine zusätzliche Stütze haben?
These 1: Das Bindegewebe verkümmert eher durch das Tragen eines BHs
Hier gibt es leider widersprüchliche Studienergebnisse. Eine französische Studie, die 2013 von Professor Jean-Denis Rouillon von der Universität Franche-Comté durchgeführt wurde, besagt, dass die Brüste eher ausleiern, wenn man sie ständig mit einem BH stützt.
So würden Muskeln und Bindegewebe verkümmern, wenn man den weiblichen Busen ständig durch einen BH, ein Bustier, eine Bralette oder sonst was unterstützen würde.
Auch andere Studien kommen laut der britischen Indipendent zu dem Schluss, dass das Tragen des BHs besonders für Frauen mit mehr Oberweite für Schmerzen und Unwohlsein sorgt.
These 2: Ein stützender BH ist schon in jungen Jahren sinnvoll
Dem widerspricht Dr. Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte (BVF). Er rät dazu, bereits im frühen Mädchenalter einen stützenden BH zu tragen, da das Brustgewebe ohne passenden BH „ausleiern“ würde.
Ein Argument, das die These von Dr. Albring stützen würde: Gerade wer einen großen Busen hat und Sport treibt, schätzt oftmals die Unterstützung durch einen BH. Hier kann das Gewicht des Busens Schmerzen bereiten und das Auf- und Abhüpfen beim Sport stören. Letztlich sollte also jede Frau für sich schauen, was sich für sie gut anfühlt oder was nicht.
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Wie auch immer ihr euch entscheidet, ob ohne oder mit BH: Sich dem No-Bra-Trend zu unterwerfen, obwohl man sich nicht wohl damit fühlt, wäre genauso blöd, wie einen BH zu tragen „weil man das halt so macht“.
Denn dann würden wir wieder da landen, wo Frauen in den 1960er Jahren ihren Kampf begonnen hatten: Bei Mode- und Schönheitsdiktaten, die Frauen die Entscheidungsfreiheit absprechen.
Denn auch von Trends sollten wir uns nicht zu sehr beeinflussen lassen, in welchem Outfit wir uns wohlfühlen oder unwohl. Entscheidet also allein für euch, wie ihr euch kleidet – egal ob mit oder ohne BH.
Feminismus muss uns alle angehen. Nur wenn auch die Männer sich mit feministischen Themen und widersinnigen Rollenmustern auseinandersetzen und das Thema nicht immer als Frauen-Ding abtun, das eigentlich total überflüssig ist oder das die Frauen ruhig mal allein machen sollen, können wir wirklich etwas verändern in unserer Gesellschaft.